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Bleib dir selbst treu
Am nächsten Tag ist mal wieder »Elternabend«, und ich setze im Konferenzraum von EPT Kaffee auf, während ich auf das Eintreffen der Eltern warte. Es handelt sich um das monatliche Treffen mit den Familien meiner geistig zurückgebliebenen Schützlinge, und etwa zwanzig Personen werden mit den üblichen Fragen, Beschwerden und der üblichen Lust auf Butterplätzchen ankommen. Ich ziehe die Frischhaltefolie von einem Tablett mit frischem Gebäck und versuche zu vermeiden, dass Krümel auf meine rosa Bluse fallen. Ich bin müde, und mir tut der Rücken weh, weil ich allein auf der zu harten Matratze (die natürlich Teddy ausgesucht hat) schlafe: Ich habe mich die ganze Nacht hin und her geworfen und gefragt, ob Teddy nun am Sonntag kommt, um seinen Flachbildfernseher abzuholen.
Schweigend lege ich die magnetischen Plättchen, die ich in einem Umschlag aus meiner ledernen Aktenmappe gezogen habe, auf das weiße Brett vor mir. UNABHÄNGIGKEIT! SELBSTACHTUNG! TEAMARBEIT! KOMMUNIKATION! schallt es mir von den glänzenden Streifen entgegen. BLEIB DIR SELBST TREU fällt aus dem braunen Kuvert auf den Boden. Ich beuge mich hinunter, um das Plättchen aufzuheben. Was für eine Ironie, dass ausgerechnet ich solch einen Haufen Unsinn vortragen muss. Von Teamarbeit kann man im Hinblick auf meine vierjährige Ehe sicher nicht sprechen. Um die Kommunikation ist es miserabel bestellt. Die Selbstachtung ist im Totalabsturz begriffen. Und was das Sich-selbsttreu-Bleiben betrifft, so ist das lediglich Teddy gelungen. Er hat es geschafft, alles, was er wollte, aus diesem Bund zu holen, einschließlich einem Fernseher und meiner besten Freundin.
Die Tür geht auf und Mrs Beyer kommt in einem leuchtend blauen Kostüm herein. Sie hat den Gang einer Frau, die sich unter Männern durchsetzen muss. Ihr glatter, knielanger Rock an ihrem dünnen, wohlgeformten Körper leuchtet, als würde er von hinten angestrahlt. Ich kann verstehen, warum sie all diese Riesenhäuser draußen in den Hamptons so leicht losbekommt. Vermutlich verdient sie bei einem Verkauf mehr als ich in einem ganzen Jahr damit, ihrem Sohn beizubringen, wie man Regale mit Suppen und Hundefutter abstaubt.
»Ich freue mich, dass Sie kommen konnten«, sage ich zu ihr.
Sie lächelt ihr schönes Lächeln und runzelt dann ihre makellose Stirn. »Milton ist mitgekommen«, sagt sie. Ihr rotbraunes Haar schwingt um ihren Kopf. »Er sitzt vor Ihrem Büro. Er hat darauf bestanden zu kommen und wollte sogar mit dem Bus fahren, falls ich ihn nicht mitnehme.«
»Schon in Ordnung«, sage ich eingedenk der Tatsache, dass es schließlich ihr Sohn ist, der es da mit seiner Begeisterung für mich etwas übertreibt. »Es ist doch toll, dass er sogar allein Bus fahren würde«, füge ich ermunternd hinzu.
Der Konferenzraum beginnt, sich zu füllen. Ein kleines Grüppchen von Eltern und Wohnheimbetreuern hat sich leise lachend und essend um die Kekse geschart. Bald sind die üblichen Verdächtigen auf ihren Sitzen versammelt: Miltons Mutter, Linda. Die Wohnheimbetreuer, die aussehen wie Studenten und alle frisch vom College kommen. Mr Schieb, noch immer im Blaumann, der wegen seines Sohnes Nicky da ist. Mr und Mrs McCabe mit ihren identischen Nickelbrillen. Mrs Scudder, die wegen Eleanor gekommen ist. Arlene Horton mit der riesigen Handtasche aus Kunstleder, die auf ihrem Schoß thront wie ein kleiner Hund. Ein ganz ansehnliches Grüppchen. Die Leute fangen an, die Schutzfolie von ihren selbstklebenden Namensschildern zu ziehen, ein Zeichen für mich, dass es losgehen kann.
»Herzlich willkommen«, sage ich. »Vielleicht beginnen wir damit, dass Sie alle die Gelegenheit bekommen, sich zu äußern.«
Nach einigen unbehaglichen Sekunden des Schweigens räuspert Mrs McCabe sich und macht den Anfang. »Na ja«, sagt sie, »Susan hat ein bisschen Ärger.«
Ich lächle ermutigend. Susan arbeitet in der Wäscherei des Babylon Terrace Motels.
»Sie hat Waschlappen gestohlen«, sagt Mrs McCabe. Das Deckenlicht spiegelt sich in ihren Brillengläsern. »Sie stopft sie sich in den BH und die Socken, bevor sie geht.«
Ernsthaftes Nicken allerseits. »Die Versuchung ist einfach zu groß, wissen Sie«, äußert Mr Schieb, was mich zu der Überlegung veranlasst, was er wohl schon alles aus der Autowerkstatt entwendet hat. Erneutes Nicken.
»Mein Mann und ich werden ja nicht für immer da sein«, sagt Mrs McCabe, eine Bekanntmachung, die man bei dieser Art Treffen oft zu hören bekommt. »Und wer klärt dann so etwas mit den Motelbesitzern?«
Alle Blicke richten sich auf mich, als wüsste ich die Antwort, als wäre ich für ihre Kinder da, wenn sie einmal tot sind. Plötzlich scheinen wir alle in diesem kleinen Raum traurig zu sein. Ich spüre, dass die Eltern von mir eine Aussage erwarten, die sie heute Nacht besser schlafen lässt.
»Gut!«, rufe ich und klatsche in die Hände. »Deshalb sind wir ja alle zusammen hier. Ich übernehme es, mit Susans Vorgesetztem zu sprechen, und Sie können mit Susan selbst kommunizieren.«
Sie blicken mich ausdruckslos an. Ich zeige auf eines der Magnettäfelchen, das, auf dem KOMMUNIKATION! steht. Mein Arm ist ausgestreckt, mein Blazer rutscht über die Hüfte nach oben. »Jede Mom und jeder Dad sollte sich selbst treu bleiben«, ermutige ich sie und gehe zum nächsten Streifen über. »Sagen Sie es Ihren Kindern, wenn sie etwas falsch machen. Sagen Sie es nicht nur einmal, um dann beim nächsten …«
Ich werde unterbrochen. Die Tür fliegt auf und Milton Beyer platzt herein. Er geht an den Stuhlreihen vorbei bis nach vorne, wo ich stehe. Er bewegt sich mit großer Dringlichkeit, was durch seinen gebeugten Kopf, die vorgezogenen Schultern und die geballten Fäuste deutlich wird. Der normalerweise so liebe Ausdruck ist von seinem schönen Gesicht verschwunden. Er sieht schlimm aus, sein Haar ist ganz durcheinander und seine Jeans sitzt ein bisschen zu hoch und in der Taille schief. Auf seinem blauen Sweatshirt prangt der Road Runner, mit der Aufschrift BEEP BEEP!! unter den großen Füßen.
»Miss Plow?«, sagt Milton beim Näherkommen. Auf seinem hübschen, kantigen Kinn entdecke ich einen ganz leichten Bartschatten.
»Milton«, sage ich.
»Ich muss bei der Arbeit an meine Manieren denken. Ich muss bei der Arbeit an meine Manieren denken.«
»Ja, ja. Aber – nein. Was ich sagen wollte, Milton: Wir sind gerade mitten in unserem Elternabend …«
»Ich muss aber mit Ihnen reden, Miss Plow.«
Milton fährt zur Gruppe herum. Sein Blick streift seine Mutter und bleibt an Arlene Horton in der ersten Reihe hängen.
»Ich arbeite sehr gut!«, erklärt er ihr. »Ich bin sehr gut!«
»Davon bin ich überzeugt, mein Junge«, sagt Mrs Horton und drückt ihre große Tasche an sich.
»Ich bin ein echtes Plus. Mr Hamilton sagt, ich bin ein echtes Plus.«
»Ja, das bist du, Milton«, gebe ich ihm recht und geleite ihn vorsichtig am Ellbogen in den hinteren Teil des Raumes. »Und ich verspreche dir, dass wir nachher weiterreden. Nach dem Elternabend, ja?«
Ich spüre, wie Milton sich sträubt, als ich ihn zurück zur Tür bringe. Aber hier handelt es sich um einen Elternabend, und ich muss mir selbst treu bleiben. Keine Kinder beim Elternabend.
»Ich wollte Ihnen nur sagen, wie schön Sie sind«, sagt Milton. »Und ich liebe Sie.«
Eine Stille senkt sich über den Raum, wie man sie nicht oft erlebt. Kein Kichern, kein peinlich berührtes Hin- und Herrutschen auf den Stühlen. Diese Eltern lachen bei Liebeserklärungen nicht.
»Wir reden später weiter«, sage ich noch einmal zu Milton. Dann schenke ich ihm eine Tasse Kaffee mit Amarettoaroma ein. Er nippt daran und lächelt. »Hmm«, sagt er. »Armadillo.«
Ich halte ihm die Tür auf. Wir alle sehen zu, wie Milton mit seinem Kaffee und seinen Keksen hinausschlurft. Nach einer Minute bricht Mr Schieb das Schweigen, indem er sich am Arm kratzt und seufzt. »Himmel«, sagt er. »Was für ein Abend.«